Von Dr. Alois Döring
Am 5. Mai jährt sich der Guss der Kölner Petersglocke zum 100. Mal. Die Petersglocke des Kölner Domes ist die größte Glocke Deutschlands und eine der größten Läuteglocken der Welt. Entstanden unter den harten Bedingungen der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, prägt sie das Leben der Stadt seither und ist nicht nur den Kölnerinnen und Kölnern ans Herz gewachsen, die sie liebevoll „decker Pitter“ nennen. Ihr Läuten ist stets Anlass für viele Menschen, auf der Domplatte dem Klang dieser Glocke zu lauschen.
Ziel des Glockentages 2023 anlässlich des Jubiläums des „decken Pitter“ in Köln ist es, das Interesse in der Bevölkerung für den allgegenwärtigen Glockenklang zu wecken und sich damit in verschiedener Weise auseinanderzusetzen. Das Jubiläum der Petersglocke gibt Anlass, sie nicht nur unter glockenkundlichem Aspekt zu betrachten, sondern auch die Aufgabe der Glocken in den Kirchen, ihre Bedeutung für unseren Kulturkreis zu bedenken.
Die Sprache der Glocken
Sie kennen sicherlich alle das Verslein von Wilhelm Busch: „Musik wird oft nicht schön empfunden, weil sie mit Geräusch verbunden.“ In freier Variation wird es zu einer bitteren Wahrheit unseres Alltags: „Glockenläuten wird als Lärm empfunden, weil es mit Geräusch verbunden.“ Das Läuten der Glocken wird heute vielfach als unzumutbare Lärmbelästigung angesehen. Immer wieder kommt es vor, dass Nachbarn von Kirchen oder Kapellen die Glocken als ruhestörend empfinden und die Gerichte anrufen.
Die Glocke werden/wurden im kirchlichen Gebrauch verwendet, um die Gläubigen zu den Gottesdiensten zu rufen. Neben diese Verwendung tritt der Brauch, bei bestimmten gottesdienstlichem oder außerliturgischen Geschehen.
Beiern
Das Anschlagen von innen mit dem pendelnd aufgehängten Klöppel geschieht beim sogenannten Beiern der Kirchenglocken, einem Brauch, der seit vielen Jahrhunderten in mittel- oder auch nordeuropäischen Landschaften geübt wird.
Früheste Zeugnisse über den Brauch kommen aus dem belgisch-niederländischen Kulturraum und reichen in das 14. und 15. Jahrhundert zurück. Auch die ältesten rheinischen Belege stammen aus dem 14. Jahrhundert, und zwar aus Aachen und aus Wesel am Niederrhein. Für das folgende Jahrhundert ist dieser Glockenbrauch anlässlich der Fronleichnamsprozession im niederrheinischen Pfarrdorf Wittlaer bezeugt.
Als Beierleute traten und treten verschiedene Personengruppen in Erscheinung. In der Regel war hierzu der Küster bestimmt, der auch allgemein als Glöckner fungierte. In manchen Orten haben die Junggesellen oder Bruderschaften, Mitglieder des Kirchenchores, Gesangvereines, kirchlicher Vereinigungen wie Kolpingfamilie das Beiern übernommen.
Eine knappe Beschreibung unterschiedlicher Beiertechniken bietet Adam Wrede: Den Rand der ruhenden Glocke in bestimmtem Rhythmus anschlagen… beim Beiern werden Seilenden um die Klöppel der Glocken geschlungen; die anderen Ende hält der Beiermann teils in den Händen, teils sind sie an seinen Füßen; auch kann mit einem Hammer auf die Glocken geschlagen werden; Kraft, Erfahrung und Kunstfertigkeit sind erforderlich, um den Rhythmus und die Intervalle, die für jede Pfarrkirche anders sind, richtig zu halten.
Auf welche Weise das Beiern vor rund vierhundert Jahren im belgisch-niederländischen Kulturraum ausgeführt wurde, illustriert ein Bericht des Philippe de Hurges aus dem Jahre 1615, der folgendes in der ehemaligen St. Lambertus-Kathedrale von Lüttich erlebt hat: Zu seinem Erstaunen habe jemand in einem großen hölzernen Lehnstuhl Platz genommen und die Klöppel von vier Glocken mit Hilfe von Seilen an den Händen und den Füßen festgebunden. Darauf habe der Mann, schon zappelnd und gemartert, das erschreckend eintönige Stück mi-mi-fa-mi-re-do-do-re-mi-fa-fa hören lassen. Er, Philippe der Hurges, habe dem Beiermann geraten, noch zwei Glocken mehr zu nehmen, die Seile der betreffenden Klöppel um seinen Hals zu binden und zwischen die Zähne zu nehmen. Der gute Mann befolgte den Rat arglos und hätte sich beinahe erwürgt, wenn der Besucher nicht eingeschritten wäre.
Der Beiermann / die Beierfrau kann die Glocken auch bedienen, indem er mit beiden Händen den Klöppel umfasst und an die Glockenwandung anschlägt. Allgemein üblich ist es jedoch heute, abwechselnd im Rhythmus der Melodie fest gespannte Seile niederzudrücken, an denen die Klöppel dicht neben der Wandung angebunden sind. Die Spieler bewegen die Seile mit Händen, Füßen oder auch mit den Hüften.
Das Beiern gilt als glockenspielartiger Brauch zur Verschönerung von kirchlichen oder weltlichen Festen. Herkömmliche Beier-Termine sind etwa die Kirchenfeste wie Ostern, Christi Himmelfahrt, Pfingsten, Weihnachten, die speziellen katholischen Feiertage wie Fronleichnam, Weißer Sonntag, Marienfeste oder auch Bischofsweihe, Bischofsbesuch, die speziellen evangelischen Feiertage wie das Reformationsfest oder Luthers Geburtstag sowie schließlich weltliche Feste wie Kirmes, Schützenfest, politische Gedenktage.
Auf eine lange Tradition kann der Glockenbrauch in Westfalen verweisen. Das Pfarrbuch von Volkmarsen, ehemals Bistum Paderborn, vermerkt beispielsweise im Jahre 1846: Hinsichtlich des Läutens besteht hier noch wie im Paderbörnischen die Sitte des s.g. Beierns. Der Unfug, daß halbe Tage und Nächte geläutet werde, ist nach und nach beseitigt, nur an den hohen Festtagen ist noch ein einstündiges Läuten oder Beiern an den Vorabenden und in der Frühe der Feste nach gegeben.
Es wurde/wird also auch im Westfälischen an den Vorabenden hoher Feiertage, aber auch an Sonn- und Festtagen zwischen Ostern und Jakobus (Dortmund), in Lüdenscheid jährlich an Karsamstag sowie während des Jahres jeweils vor hohen Festtagen gebeiert, in Veldhausen erklingt das Beiern an Weihnachten, Silvester und Neujahr, wie die Beierleute erzählen:
Literatur (Auswahl)
Alain Corbin: Die Sprache der Glocken. Ländliche Gefühlskultur und symbolische Ordnung im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 1995.
Alois Döring: Glockenbeiern im Rheinland. 2. Auflage Köln 1993.
Alois Döring: Rheinische Bräuche durch das Jahr. 2. Auflage Köln 2007.
Abb. aus Döring, Glockenbeiern